Die Reise einer Zahl, die lange unentdeckt blieb
- Robert Hirsch
- 13. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Nov.
Was glaubst du, wie lange es unsere Zahlen schon gibt? Denkst du, dass unsere Vorfahren auch schon so „gezählt“ haben wie wir? Wusstest du, dass wir in Europa bis vor 500 Jahren noch völlig anders gezählt und gerechnet haben? Und verantwortlich dafür ist eine einzige Zahl, nämlich die Null. Dass wir diese in Europa erst seit etwa 400 bis 500 Jahren kennen, ist kaum jemanden bekannt. Warum sie so lange „unentdeckt“ blieb, wer sie eingeführt hat und wie sie ihre holprige Reise nach Europa vollführte, das erfährst du in diesem Artikel.
Die Zahl Null bedeutet sinngemäß übersetzt „Nichts“. Wenn wir uns vorstellen, wie alte Kulturen begonnen haben zu zählen, etwa mit Strichen, so würde man mit dem ersten Strich die Zahl 1 beschreiben und dort auch starten. Offensichtlich ist es nicht, dass wir zum Zählen die Null hinzugeben. Und wenn ich heute im Unterricht meine erwachsenen Teilnehmer frage, ob man „Null“ zählen kann, kommt fast immer ein einheitliches Nein.
„Aber ich kann doch sagen, dass Null Personen im Fahrstuhl sind, oder etwa nicht?“
Nach dieser Frage lassen sich eigentlich alle davon überzeugen, die Null hinzuzugeben, und wir definieren die Natürlichen Zahlen mit der Null. Ich erkenne aber auch, dass die Verwendung der Zahl Null intuitiv nicht selbstverständlich ist. So kann man sich auch den Umgang früherer Kulturen mit dieser Zahl vorstellen, die vermutlich eine Vorstellung davon hatten, dass es ein „Nichts“ gibt. Aber mit ihr zu rechnen? Diese und wohl auch religiöse Gründe, also das „Nichts“ darzustellen, verhinderten lange Zeit ihre Einführung.
Die Suche nach ihrem Entdecker
Davor gilt es aber was zu klären. Wir müssen nämlich unterscheiden zwischen der Ziffer 0, also der Darstellung von „Nichts“, und der Zahl 0, mit der wir zählen und rechnen können. Die Darstellung selber gibt es nämlich schon viel länger. So glauben manche Forscher, dass im Horus-Tempel der Alten Ägypter eine Inschrift auf den Wert Null hinweist. Demnach ist ein Dreieck definiert als ein Viereck, wobei eine Seite die Länge 0 besitzt. Für ihr Zählsystem verwendeten die alten Ägypter jedoch keine 0. Ähnlich ist es bei den alten Griechen. Es finden sich zwar ab und an Zeichen, die für 0 stehen. Zum Zählen kamen jedoch auch sie ohne aus.
Die Inkarnation an 2 Orten
Die Zahl taucht zu etwa ähnlichen Zeiten an 2 Orten auf, die geografisch unterschiedlicher nicht sein könnten, und diese 2 Kulturen wussten definitiv nichts voneinander. Sie sind sogar getrennt von einem riesigen Ozean.
Die erste Kultur, von der die Rede ist, sind die Maya. Sie haben bereits vor Christus die Zahl Null in ihren Kalenderberechnungen eingeführt und damit extrem genau Berechnungen angestellt. So konnten sie das Sonnenjahr auf 3 (!) Nachkommastellen genau berechnen. Eine unglaubliche Leistung. Leider ging viel Wissen dieser Kultur verloren, als die Europäer nach Amerika kamen. Neben der katastrophalen Pockenepidemie verbrannten sie fast die gesamten Maya-Manuskripte, sodass wir vermutlich nie ganz herausfinden werden, wie weit sie aus wissenschaftlicher Sicht wirklich gekommen sind. An dieser Stelle endet die Reise unserer Zahl. Und wäre sie nicht ein zweites Mal aufgetaucht, so würden wir wahrscheinlich heute noch mit römischen Zahlen rechnen.

Wer hat’s ge(er)funden?
Ein zweites Mal taucht die Zahl verglichen mit den Maya am anderen Ende der Welt auf. Die Rede ist vom alten Indien. Im sogenannten Bakhshali-Manuskript wurde zum ersten Mal die Zahl Null eigenständig in Rechnungen verwendet. Forscher datieren den Fund auf 200 bis 400 n. Christus. Noch spannender ist aber ein zweiter Fund. In der „Brahmasphutasiddhanta“ hat der indische Mathematiker Brahmagupta Rechenregeln definiert, welche die Zahl Null einschließen.
Eine Zahl addiert oder subtrahiert mit Null ergibt wieder die Zahl. Eine Zahl mal 0 ergibt 0.
Lediglich die Division mit Null gibt er mit Null an, was wir aus heutiger Sicht anders definieren. Der indische Mathematiker geht sogar noch weiter. Er definiert negative Zahlen und gibt eine Formel für die Lösung quadratischer Gleichungen an. Eine großartige Leistung. Ob man ihn aber wirklich als Erfinder nennen kann, ist fraglich. Einerseits wurde davor schon mit Null gerechnet. Andererseits könnte das Buch auch nur die Zusammenfassung des Wissens sein, welches in dieser Zeit bereits in Gelehrtenkreisen vorhanden war.
Die Null erobert die arabische Welt
Arabische Gelehrte übernahmen das indische Zahlensystem und entwickelten es weiter. So kam es schließlich nach Spanien, das zu dieser Zeit von den Mauren besetzt war. In Städten wie Toledo, die bedeutende Zentren der Übersetzungsbewegung waren, wurden arabische Schriften ins Lateinische übersetzt. Da oftmals Begriffe aus dem Latein fehlten, nutzte man die arabischen Begriffe. So kam es, dass wir heute viele Begriffe aus dem Arabischen in unserer Sprache benutzen.
Ein holpriger Start in Europa
Dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci fielen beim Studieren dieser Schriften die Vorteile des indisch-arabischen Zahlensystems auf, welches mit der Null arbeitet. In seinem bekannten Werk Liber Abacci stellte er dies vor, stieß jedoch auf Widerstand. Viele Händler und Kaufleute waren mit dem römischen System vertraut und hätten das Rechnen völlig neu lernen müssen. Zudem sah man die Verwendung von „Nichts“ als bedrohlich an, welches nicht in das christliche Weltbild passte.
Einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung leisteten die Rechenbücher des Deutschen Adam Ries. Darin zeigte er auf einfache Weise, wie man mit dem neuen System rechnet. Seine Bücher verfasste er noch dazu auf Deutsch, was seine Verbreitung drastisch förderte. Über 100 Jahre lang waren sie die Standardwerke für das praktische Rechnen.
Was lange währt, wird endlich gut - die arabischen Zahlen
Wir sehen: Neues wird nicht immer gleich akzeptiert, selbst wenn es dem Alten überlegen ist. Da werden schon mal religiöse Gründe zur Ablehnung angeführt. Man muss den Menschen das „Neue“ schon schmackhaft machen und ihnen einen einfachen Zugang bieten. Dann klappt’s.
Die Zahl Null hat eine lange Reise hinter sich. In 1500 Jahren legte sie eine Strecke von Indien bis nach Europa zurück. Was lange währt, wird endlich gut. Heute wäre eine Welt ohne Null nicht vorstellbar. Und sie wird uns noch sehr lange begleiten - außer ein findiger Mathematiker entdeckt ein noch revolutionäreres Zahlensystem. Wer weiß! 🤔








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